Katharina Hausel „Berlin-Mitte Mai-1987“ Katalog Collection Regard 2011

Das Flüchtige
DDR-Aufnahmen der 70er und 80er Jahre von Hans Martin Sewcz

Berlin (Ost), Oranienburger Straße.

Eine leere Kreuzung. Trambahnschienen. Zu beiden Seiten Häuserblocks. Ein paar Bäume im Hintergrund. Davor wenige Autos. Vor einem baufälligen Haus links eine Menschengruppe, davor eine laufende Frau im weißen Sommerkleid. Über der fluchtenden Häuserreihe versteckt sich die Kuppel der Synagoge. Ganz hinten, aus der Bildmitte leicht versetzt, der Fernsehturm. Das Gebäude rechts erstreckt sich über die Bildränder hinaus. Über dem Eingang eine Banderole: „Je stärker der Sozialismus
desto sicherer der Frieden!“                                       Blickwechsel.

Abermals Trambahnschienen, Häuserreihen und Bäume. Rechts parkende Autos. Links eine laufende Frau im weißen Sommerkleid. Dahinter zwei tuschelnde Mädchen. Ein Mann beugt sich über ein Auto, ein anderer geht über die Straße nach rechts, wo das alte Postfuhramt steht. Davor, mitten im Fußweg, eine Umgitterung. Ein verschlossener Eingang. Wohin?

Das sind nur zwei der rund 30 Schwarzweiß-Panoramafotografien, die Hans Martin Sewcz im Mai 1979 in der Spandauer Vorstadt aufgenommen hat. Obwohl er bereits in Leipzig studierte, hatte er immer noch ein Zimmer in der Tucholskystraße. Ihn faszinierten die „nicht erwünschte Authentizität“, die übriggebliebenen Häuser, die großen Kriegsbrachen dazwischen, die riesigen Brandmauern und die dunklen Backsteine. Zu Zeiten der DDR war geplant, die alte, langsam verrottende Bausubstanz abzureißen und durch Plattenbauten zu ersetzen, was jedoch nur partiell verwirklicht wurde.

Das heutige Aussehen dieses Viertels lag damals jenseits der kühnsten Vorstellungen. Sewcz’ frühe Bilder ab Mitte der 70er Jahre wirken daher inzwischen wie Bruch- und Fundstücke. Er selbst sagt, seine damaligen Arbeiten schwankten „zwischen den Polen von Abneigung und Identifikation“. Darüber hinaus sei er von dem damaligen Zustand begeistert gewesen, „der Motive mystisch bis abstrakter Bildfindungen zuließ“.

Allein daher zeigen sie das Bild eines Fotografen, den es neu zu entdecken gilt.

Hans Martin Sewcz, geboren 1955 in Halle an der Saale, beginnt als 18jähriger, die Fotografie gezielt als Ausdrucksmittel einzusetzen. Er wird 1975-81 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zum Diplom-Fotografiker ausgebildet und lebt, ebenfalls seit 1975, bereits in Berlin-Mitte. 1988, wenig mehr als ein Jahr vor dem Mauerfall, wird nach vier langen Jahren sein Ausreiseantrag endlich bewilligt. Sewcz geht nach West-Berlin. Er wendet sich zusätzlich der Konzeptkunst zu, produziert Installationen und Filme.

Schon zu DDR-Zeiten ist sein großes Thema die Alltagskultur. Und damit stellt er das Lebensgefühl seiner eigenen, der Generation unter Honecker, dar. Unter Ulbricht hieß es noch, man baue die Grundlagen des Sozialismus auf – für die Zukunft. Sein Nachfolger versprach den Wohlstand für (fast) sofort. Nach einer kurzen wirtschaftlichen Blüte in den 70er Jahren begann bekanntlich der Abstieg. Nur die Repressionen gegen Andersdenkende blieben.

Das frühe Œuvre des Fotografen Sewcz umfasst Porträts, Straßenfotografie und Detailaufnahmen von steinigen Oberflächen. Seine Bilder sind mitteilsam und dennoch wenig aufdringlich. Sie lassen die Poesie des Zufalls anklingen.

In Leipzig und Berlin (dort vor allem in Mitte) nimmt er ab etwa 1976 Straßenszenen auf. Die Passanten, sowohl Kinder als auch Erwachsene, reagieren spontan. Der Romantitel Ankunft im Alltag von Brigitte Reimann (1961) klingt hier programmatisch nach. Schon 1981 in Moskau und dann während der ganzen 80er Jahre wird Sewcz den Bildausschnitt enger und die Blicke direkter erfassen. Ähnlich wie Henri Cartier-Bresson, Helen Levitt, Helga Paris, Gabriele und Helmut Nothhelfer.

1976 entstehen die anonymen ¾-figurigen Porträts seiner Kommilitonen: Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst sowie Pädagogik-, Musik und Schauspielstudenten, darunter Ulrich Mühe. Sachlich, vor einer weißen Wand aufgenommen, stehen die Bilder formal in der Tradition der strengen Schwarzweiß-Bildnisse von August Sander. Sewcz’ Arbeiten sind älter als die farbigen Kommilitonenporträts von Thomas Ruff (*1958) aus den Jahren 1983-87. Die Gesichter sind ernst, aber keineswegs ausdruckslos; die Kleidung ist teilweise unkonventionell. Vor allem die jungen Kreativen, zu denen der Fotograf selbst gehört, geben sich rebellisch.

Neben den Blick fürs Detail entwickelt Sewcz auch einen Blick fürs Große. Ausgerechnet in den Straßen der Spandauer Vorstadt reizt er 1979 mit einer geliehenen Kamera das Panoramaformat von 120° aus. Die Passanten erscheinen hier, aus der Distanz, wie Spielbrettfiguren oder Statisten eines metaphysischen Spektakels, wie Knoten in einem geknüpften Netz. Der junge Fotograf konzentrierte sich auf Straßenzüge, Häuserecken, Brandmauern, und unzugängliche (weil verschlossene) U- und S-Bahnhöfe.

Rund 20 Jahre später stellt Sewcz von diesen ersten Stadtpanoramen größere und zugleich hellere Abzüge her. Die Bild-Sprache ist jetzt präziser ─ andererseits fehlt das Unvoreingenommene des Flaneurs, die Leichtigkeit und Frische der unmittelbaren Nähe. Stattdessen belegen die neuen Abzüge die Reife des reflektierenden Bildautors, der um die Flüchtigkeit des Abgebildeten weiß und sie bewusst fixiert. Genau entgegengesetzt, nämlich „Unbewusste Orte“, heißt die berühmte fotografische Arbeit der Straßenansichten von Thomas Struth (*1954); ab 1978 fotografiert jener, anders als Sewcz, menschenleer, im Großformat und: Im Westen.

Vergleichsweise knapp sind die Ausschnitte der Sewczschen Strukturbilder von Putz und Stuck an Hausfassaden und Mauern. Seine abstrahierenden Detailbilder erinnern an die grafische Bildsprache von Aaron Siskind. Da „die“ Mauer in der DDR nicht fotografiert werden durfte, können wir diese Aufnahmen immer auch als Hinweis auf die politische und damit persönliche Situation lesen. Obwohl unbelebt, sind die Bilder doch nicht leblos: Sewcz’ Detailaufnahmen suggerieren Vergänglichkeit, verströmen den Atem von Geschichte(n). Ein Haus in Leipzig oder Berlin hält davon mehr fest als ein Mensch, für den das alles schnell zur Vergangenheit wird. In den Schichten hinter diesen Bildern wird es dagegen festgehalten.

1985 bis 1986 befasst sich Sewcz, von amerikanischer Pop Art inspiriert, mit der Produktkultur der DDR. Diesmal in Farbe, so dass das blasse Bunt der Waren und ihrer Verpackungen in den Schaufenstern besonders betont werden. Die Darstellung eines Lebensstandards, von dem alle paar Jahre behauptet wurde, man würde den des Westens bald ein-, ja überholt haben, wirkt zunächst ironisch; doch dieselben Objekte befinden sich heute in den Museen!

Sein „Selbstporträt mit Agnes B. vor Gorbatschow-Limousinen“ ist Teil einer Serie, die anlässlich des Besuchs des jungen sowjetischen KPdSU-Chefs 1987 in Ost-Berlin entsteht. Sewcz vergrößert Teile des Kontaktstreifens, dass selbst die Perforation sichtbar bleibt. In dieser sequenziellen Form entsteht ein beinah kinematografischer Effekt, der wiederum durch die Fragmentierung gebrochen wird.

Nach der Wende tariert Sewcz seinen Schwerpunkt neu aus; er hält die „Bruchstellen“, wie Simone Kraft schreibt, in der Veränderung des gesamten Berliner Stadtbildes fest, filmt Straßenszenen, Love Parades und Porträts, baut Installationen aus „Ready-founds“ made in GDR. Heute konzentriert sich seine fotografische Arbeit vor allem auf zeitgenössische Architektur. Er reflektiert die Veränderungen und porträtiert Gebäude, als handele es sich dabei um Persönlichkeiten.

Die Auseinandersetzung mit dem Berliner Stadtraum, sowohl im Stillstand, als auch in den rasanten Veränderungen, zieht sich durch sein gesamtes fotografisches Werk, und so gewinnen auch seine frühen Aufnahmen wieder erheblich an Bedeutung.

Fast möchte man sagen: Verweile doch, du bist so … flüchtig …

Katharina Hausel „Berlin-Mitte Mai-1987“ Collection Regard 2011

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